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Mister Pip

Ein Bestseller - weltweit!

 

Rezension

 

Quelle: Frankfurter Allgemeine Zeitung

24.05.2008


In der Tropenschule mit Mr. Watts und Mr. Dickens

 

Lloyd Jones hat mit "Mr. Pip" den erfolgreichsten Roman Neuseelands und eine Hymne auf Charles Dickens geschrieben: Einladung zu einer Feier der Phantasie im Südpazifik.

 

Von Felicitas von Lovenberg

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Lloyd Jones

 

Über diesen Roman sollte man lieber nicht zu viele Worte machen, wenn man möchte, dass ihn anschließend möglichst viele Menschen lesen. Man sollte einfach mit Nachdruck sagen: ein hervorragendes Buch, unbedingt zu empfehlen. Falls Nachfragen kommen, sollte man vielleicht damit anfangen, dass "Mr. Pip" Favorit beim letztjährigen Booker-Preis war, obwohl sein Autor Lloyd Jones zuvor in Großbritannien völlig unbekannt und auch Großmeister Ian McEwan mit im Rennen war. Der Aufrichtigkeit halber, aber mit wegwerfender Geste müsste man hinzufügen, dass er dann, für die Buchmacher vollkommen überraschend, gegen "The Gathering" von Anne Enright verlor - solche Entscheidungen sind immer umstritten, man kennt das ja. Sodann könnte man euphorisch berichten, dass "Mr. Pip" außerdem andere wichtige Auszeichnungen wie den Commonwealth Writer's Prize gewonnen hat und auch ohne Booker seinen Autor Lloyd Jones, in seiner neuseeländischen Heimat lange schon ein anerkannter Qualitätsschriftsteller, weltweit bekannt gemacht hat, ja, dass "Mr. Pip" mittlerweile sogar das erfolgreichste neuseeländische Buch aller Zeiten ist. Erst wenn die Frage aufkommt, worum es denn nun geht in diesem fabelhaften Roman, druckst man etwas herum. Es geht um Loyalität, Zivilcourage, Glauben und Empathie, um Charles Dickens und die lebensverändernde Wirkung von Literatur. Und es spielt auf einer Insel im Südpazifik.

 

Charles Dickens im südpazifischen Dschungel? Das klingt wie "Fluch der Karibik" im viktorianischen Teesalon, also verdächtig nach gesuchter Originalität und wirkungsvoll ausgetüfteltem Plot. Oder, wie die "New York Times" schelmisch bemerkte, nach einem Ausflug ins Paradies der Pädagogen, der sich indes als "überraschend genießbar" herausstellt. In der Tat ist "Mr. Pip" eine Feierstunde der Unterweisung in Menschlichkeit und Mitgefühl, wie jeder ahnen mag, der je dem Waisenjungen Philip Pirrip, genannt Pip, aus "Große Erwartungen" von Charles Dickens begegnet ist - aufgrund seines wechselvollen Schicksals und schließlicher Läuterung, also reichlicher Metaphernausbeute ein Liebling aller Englischlehrer. So auch von Mr. Watts, dem letzten Weißen in Bougainville, der sich aufgrund seiner Hautfarbe ("weiß wie unsere Augäpfel, nur kränklicher") und wohl auch seiner Erscheinung in einem ramponierten, aber dennoch respekteinflößenden hellen Leinenanzug plötzlich als Lehrer in der Missionsschule wiederfindet. Die vorigen Inhaber dieses Amtes hatten die Insel mit dem letzten Boot verlassen. Seither warten die Menschen in Bougainville auf den Krieg oder, wie es die Erzählerin, die vierzehnjährige Matilda, lapidar ausdrückt, "auf die Rothaut-Soldaten oder die Rebellen, wer immer zuerst hier auftauchen würde".

 

Mr. Watts, dessen seltsame Ausflüge mit seiner Frau Grace - sie schwarz, stolz und stumm auf einem Holzkarren stehend, den er, schmächtig und flatterig, hinter sich herzieht - die Kinder stets fasziniert verfolgt hatten, besitzt als Lehrer vom ersten Tag an die Autorität eines Außenseiters mit Erfahrung in der für die Kinder und ihre Eltern unermesslichen Weite der Welt jenseits der Insel - genau wie Mr. Dickens, aus dessen "Große Erwartungen" Mr. Watts den Kindern täglich vorliest, so dass sie den Roman, ganz wie seine ersten Leser, in Lieferungen aufsaugen. Die Wirkung ist berückend: "Als Mr. Watts mit dem ersten Kapitel fertig war, kam es mir vor, als hätte dieser Junge, Pip, selbst mit mir gesprochen. Ich hatte einen neuen Freund gefunden."

 

Matildas Mutter Dolores sind dieser neue Freund und die fremden Wörter, mit denen ihre Tochter nach Hause kommt, ja der ganze Literaturzauber, der die Kinder mitten aus der tropischen Hitze ins kalte England versetzt, nicht geheuer. Dolores empfindet den Gentlemanlehrer Mr. Watts als persönlichen Widersacher, als Rivalen bei der Erziehung ihrer Tochter. Dabei lehrt dieser die Kinder nicht nur Rechtschreibung und Einmaleins, sondern er bittet auch ihre Mütter und Großmütter, als Gäste in den Schulstunden ihr ureigenes Wissen weiterzugeben. Und so erfährt die Klasse, wie man einen Tintenfisch tötet, dass Krabben Wetterboten sind oder was es mit dem Glauben an den Feilenfisch auf sich hat. Doch das bringt die vertraute Nähe zwischen Matilda und ihrer Mutter nicht zurück: ",Große Erwartungen' war zwischen uns getreten." Matildas Mutter sieht "nur den Weißen. Und ein Weißer hatte ihr den Mann und mir den Vater gestohlen. Weiße waren für die Kupfermine und die Blockade verantwortlich. Ein Weißer hatte unserer Insel ihren Namen gegeben. Weiße hatten mir meinen Namen gegeben. Und noch etwas war inzwischen klar: Die weiße Welt hatte uns vergessen."

 

Die Manipulation, die Dolores wittert, könnte auch den Leser irritieren, der hier schließlich ebenfalls eine Lektion verpasst bekommt. Matilda erkennt in den Menschen ihrer Umgebung allenthalben die Romanfiguren wieder, und die geheimnisumrankte Vergangenheit von Mr. Watts erscheint ihr spiegelbildlich für das Leben Pips. Auch den anderen Kindern hilft Mr. Dickens, besser mit der Gewalt fertig zu werden, die ihre Welt bedroht. Umgekehrt können sie nicht verhindern, dass ihr Lehrer und seine Frau diejenigen sind, die erst von den Rothäuten, dann von den Einwohnern am härtesten bestraft werden - für ihr Anderssein. Und selbst wenn sich Mr. Watts den Tod noch eine Weile durch die Kraft der Erzählung vom Leib halten kann, zeigt sich doch, in der haarsträubend grausamen Szene, als Matildas Mutter todesmutig für ihren früheren Feind eintritt, dass man Zivilcourage nicht aus Büchern lernt. Außer vielleicht aus diesem. Denn Lloyd Jones gelingt das unwahrscheinliche Geniestück, einen Roman, der wie ein mustergültiges pädagogisches Lehrstück daherkommt, in eine bild- und sprachgewaltige, von Grete Osterwald mit Feingefühl übersetzte Parabel über die Suche nach Identität zu verwandeln.

 

Lloyd Jones: "Mr. Pip". Roman.

Aus dem Englischen übersetzt von Grete Osterwald.

Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2008.

282 S., geb., 19,90 [Euro].

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

  

 

 

 

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